VG Hannover: Neun Monate zwischen der Kenntnis über den Reiseweg und dem Wiederaufnahmegesuch sind zu lang | Rechtsanwalt König in Göttingen für Strafrecht Arbeitsrecht Sozialrecht Ausländerrecht Rechtsanwalt in Göttingen für Strafrecht Arbeitsrecht Sozialrecht Ausländerrecht

3rd Dez 2013

Ist bereits seit der vorbereitenden Anhörung dem Bundesamt bekannt, dass ein anderer Mitgliedsstaat für die betroffenen Flüchtlinge zuständig sein kann, und ersucht das Bundesamt erst neun Monate später den Mitgliedstaat um Wiederaufnahme, so wird die Bundesrepublik für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Dies hat das VG Hannover in seinem Urteil vom 07.11.2013 – 2 A 75/13 entschieden.

Die Kläger sind über Italien im September 2011 in die Bundesrepublik eingereist. In Italien wurden ihnen Fingerabdrücke (gem. EURODAC-Verordnung) abgenommen, dort haben sie auch Asylanträge gestellt. Am 17.11.2011 stellten die Kläger Asylantrag. Am gleichen Tag wurden sie zu ihrem Asylbegehren vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Vorbereitung der Anhörung zu Personalien, Fluchtgründen, dem Reiseweg usw. angehört. Bereits in dieser Anhörung gaben die Kläger an, über Italien in die Bundesrepublik eingereist, dort wurden ihnen lediglich Fingerabdrücke genommen, einen Asylantrag hätten sie nicht gestellt. Am Ende der Befragung erhielten die Kläger einen Hinweis, dass das Bundesamt zunächst prüfen wird, ob die Bundesrepublik für die inhaltliche Prüfung zuständig ist. Am 29.11.2011 fand die Anhörung über Fluchtgründe statt. Am 27.08.2012 richtet das Bundesamt ein Übernahmeersuchen an Italien nach der Dublin-II-Verordnung – die Akte kam wohl wegen einer Sachstandsanfrage vom 16.07.2012 auf den Tisch. Aufgrund eines EURODAC-Treffers wurde ermittelt, dass die Kläger am 08.08.2011 in Italien einen Asylantrag gestellt haben. Italien erklärte am 06.09.2012 seine Zuständigkeit.
Die Asylanträge der Kläger wurden mit den Bescheiden vom 11.12.2012 als unzulässig abgelehnt, weil Italien aufgrund der dort gestellten Asylanträge zuständig ist. Die Bescheide wurden den Klägern am 20.12.2011 zugestellt, ihre Abschiebung wurde für den 10.01.2013 um 08:00 Uhr terminiert.
Die Kläger erhoben am 02.01.2013 Klage und beantragten sogleich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung; diesem Antrag wurde entsprochen.

Auch die Klage war erfolgreich. Das Verwaltungsgericht setzt sich genau mit der Frage auseinander, ob und wie die Zuständigkeit auf die Bundesrepublik übergegangen ist. Wie viele andere Verwaltungsgerichte unterscheidet das VG Hannover zwischen Aufnahme gem. Art. 17 Dublin-II-VO und Wiederaufnahme gem. Art. 20. Hierbei kommt es auf die Frage an, im welchen Mitgliedsstaat ein Asylantrag zuerst gestellt worden ist. Hätten die Kläger in Italien keinen Asylantrag gestellt, so müsste das Bundesamt ein Aufnahmegesuch innerhalb von drei Monaten ab EURODAC-Treffer an Italien richten, beim Ablauf dieser Frist geht die Zuständigkeit auf die Bundesrepublik über. In dem Verfahren haben die Kläger zugegeben, dass sie irgendwelche Papiere unterschrieben haben, deren Inhalt sie nicht kannten. Hierbei handelte es sich Asylanträge. Bei der Überstellung nach Italien handelt es sich damit nicht um eine Aufnahme, sondern um eine Wiederaufnahme. Anders als im Falle des Art. 17 Dublin-II-VO sieht der Art. 20 gerade keine Fristen vor, wann ein Mitgliedsstaat einen anderen ersuchen muss, ohne dass er zuständig ist. Dieser grobe Fehler wurde bereits 2008 von den Mitgliedsstaaten gesehen, aber erst mit der Dublin-III-VO, die erst ab Januar 2014 Anwendung findet, korrigiert. Die Verwaltungsgerichte lassen dem Bundesamt freie Hand, wann ein Wiederaufnahmegesuch erfolgen muss, ohne dass die Rechte der Asylsuchenden verletzt werden. Das VG Göttingen sieht einen Zeitraum von 12 Monaten zwischen dem EURODAC-Treffer und dem Wiederaufnahmegesuch für zu lang an.

Das VG Hannover geht einen Schritt weiter: Das Bundesamt hat das Selbsteintrittsrecht bereits ausgeübt, die Bundesrepublik ist für die Prüfung der Asylanträge auch inhaltlich zuständig. Das VG stimmt auch anderen Verwaltungsgerichten zu, dass die Anhörung zu den Fluchtgründen nicht die Ausübung des Selbsteintritts darstellt. Das Bundesamt hat das Verfahren aber so betrieben, dass die Kläger davon ausgehen durften, die Anträge werden auch inhaltlich geprüft. Das Bundesamt hat einen Vertrauenstatbestand gesetzt. Bereits am Ende der Anhörung am 17.11.2011 wurde den Klägern unabhängig voneinander mitgeteilt, dass zunächst geprüft werden muss, ob die Bundesrepublik für die Prüfung zuständig ist. Denn in dieser Anhörung haben die Kläger geschildert, dass ihnen in Italien Fingerabdrücke abgenommen wurden, was ein eindeutiger Hinweis auf Asylantrag in Italien darstellt. Das Übernahmeersuchen wurde erst nach einer Sachstandsanfrage des Bevollmächtigten gerichtet, am gleichen Tag teilte das Bundesamt erstmals mit, dass das Asylverfahren an das Dublin-Referat abgegeben worden sei. Durch dieses überlange Zuwarten hat das Bundesamt die Grundrechte der Kläger durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates verletzt, so dass es erforderlich war, von dem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

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